Der Druck auf dem Kessel ist groß: Weil die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und bildungsrelevanten Kollateralschäden immer größer werden, will die Politik die Schulen nach den Sommerferien gänzlich für alle Schülerinnen und Schüler wieder öffnen. Das gilt auch für die berufsbildenden Schulen. Als Legitimation ziehen gleich mehrere Ministerpräsidenten die deutlich gesunkenen Zahlen an Neuinfektionen heran. Ein Vabanque-Spiel mit Blick auf die neuerlichen Schulschließungen in Bremerhaven oder Göttingen zur Eindämmung neuer Infektionsherde. „Die Schulen sind schlicht nicht Corona-sicher. Wenn wir Abstandsregeln und Maskenpflicht auch über den Herbst einhalten, wie von Virologen und Bundespolitik gefordert, ist ein 100-prozentiger Präsenzunterricht nicht möglich, weil schlicht die räumlichen und personellen Kapazitäten fehlen“, sagt Joachim Maiß, Vorsitzender des Bundesverbandes der Lehrkräfte für Berufsbildung e.V. (BvLB).
Eugen Straubinger, ebenfalls BvLB-Vorsitzender, ist angesichts des politischen Aktionismus verblüfft: „Mich beschleicht das Gefühl, dass die Politik auf der Hälfte der Wegstrecke jetzt umdreht und zur Normalität zurückkehren möchte. Dabei sind wir noch inmitten pandemischer Zeiten. Infektionshotspots können jederzeit wieder erwachsen, das Erreichte zunichte machen und neuerliche Schulschließungen nach sich ziehen. Die Hygienekonzepte der Länder sind nicht ausreichend, um bei 100-prozentigem Präsenzunterricht den Gesundheitsschutz für Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler verlässlich zu gewährleisten.“
Wenn, dann…: Wenn die Kultusministerkonferenz beschließen sollte, dass nach den Sommerferien ausschließlich Präsenzunterricht stattfinden soll, dann müssen in der unterrichtsfreien Zeit bauliche Erweiterungen vorgenommen werden, um unter Einhaltung der Abstandspflicht mit halbierten Klassen im Zweischichtbetrieb unterrichten zu können. Als logische Konsequenz daraus muss die Zahl der Lehrkräfte verdoppelt werden, um den Schulbetrieb in gewünschter Form aufrecht zu erhalten.
„Beides ist unrealistisch. Also müssen die hygienischen Bedingungen dem Infektionsschutzgesetz folgend deutlich ausgebaut werden. Dazu zählt – wie in jedem Ladengeschäft mittlerweile Standard – ein Spuckschutz aus Plexiglas auf jedem Lehrerpult und zwischen den einzelnen Schülerbänken installiert sind. Außerdem müssen Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler ein Anrecht auf wöchentlich kostenlose Tests haben. Und: Angesichts der ungeklärten Aerosol-Problematik müssen alle Klassenräume über eine ausreichende Belüftung verfügen. Unterricht bei offenen Fenstern im Sommer ist angenehm, Durchzug bei Minustemperaturen gesundheitsgefährdend“, sagt Maiß.
Besser und zukunftsweisender ist es aus Sicht des BvLB, wenn die Erfahrungen und Erkenntnisse der „erzwungenen“ Digitalisierung der letzten Monate einen systemischen Unterbau erfahren und der Mix aus Präsenz- und Distanzunterricht in den Schulalltag integriert wird. Die Multi Media Berufsbildenden Schulen (MMBbS) an der Expo Plaza in Hannover unterrichten seit April nur online – als einzige Schule in Deutschland, weil sie technisch entsprechend ausgestattet sind und so verlässlichen Distanzunterricht garantieren können.
„Die Berufsbildner sind in der Krise ins kalte Wasser gestoßen worden, sind zu neuen Ufern geschwommen, haben Distanzunterricht trotz aller technischen Probleme realisiert und viel experimentiert. Dieses Wissen müssen wir uns zunutze machen, um die eingeläutete Digitalisierung jetzt nicht abrupt zu stoppen und ins Gestern zurückzufallen“, sagt Straubinger.
Joachim Maiß und Eugen Straubinger